Grapefruit Ruby Red 2

Mutationszüchtung: Zufälligkeit als Methode

Es geht mit Chemikalien oder ionisierenden Strahlen: Damit lassen sich zufällige, im einzelnen unbekannte Mutationen im Erbgut auszulösen. Seit vielen Jahren wird das in der Pflanzenzüchtung genutzt. Zahlreiche Pflanzen, etwa fast alle Hartweizensorten, sind mit Hilfe dieser Technik entstanden. In der EU gelten solche Pflanzen rechtlich als „Gentechnik“, sind aber von allen dafür vorgesehenen Bestimmungen ausgenommen. Ganz anders als neue Verfahren wie etwa die Gen-Schere CRISPR/Cas, obwohl sie auf einzelnen, genau bekannten Mutationen beruhen.

Bestrahlungsanlage für Mutationszüchtung

Strahlenquelle in der Mitte. Solche offenen Anlagen zur Muationszüchtung wie diese in Japan sind heute nicht mehr üblich.

Pflanzenarten Mutagenese

Viel Mutationszüchtung: Anzahl registrierter Sorten in der gemeinsamen Datenbank von FAO und IAEA. So sind bei Hart- oder Durumweizen, vor allem für Nudeln verwendet, fast alle Sorten durch Mutationszüchtung entstanden. Ebenso rote Grapefruit (Ruby Red, großes Foto oben) und andere kernlose Obstpflanzen.

Erbgut ist nichts Statisches. Bei allen Lebewesen treten unablässig Mutationen auf, zufällige, bleibende Veränderungen im Erbgut. Die Ursache dafür sind Fehler, wie sie bei jeder Zellteilung entstehen, wenn der DNA-Strang aufgeteilt, neu kombiniert und weitergegeben wird. Solche Fehler können aber durch äußere Faktoren ausgelöst werden, etwa die kurzwellige UV-Strahlung der Sonne oder die Strahlung radioaktiver Substanzen, die natürlicherweise in der Erdkruste und der Atmosphäre vorkommen. Sie führen zu Brüchen im DNA-Strang. Bei der folgenden zelleigenen Reparatur entstehen Abweichungen von der ursprünglichen DNA-Abfolge - Mutationen. Bei Pflanzen treten von einer Generation zu nächsten mehrere Tausend davon auf - alle zufällig und im einzelnen nicht bekannt (siehe Kasten).

Die allermeisten dieser Mutationen haben keine Auswirkungen. Einige führen dazu, dass das betreffende Individuum geschädigt ist und deshalb weniger Nachkommen als seine Artgenossen hat oder nicht überlebensfähig ist. Nur etwa ein Prozent aller Neumutationen bringen ihrem Träger eine neue Eigenschaft ein, die für ihn von Vorteil ist. Nur dann breiten sie sich allmählich in einer Population aus und sind so die Treiber der Evolution.

Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte man, dass Mutationen durch verschiedene äußere Einwirkungen hervorgerufen werden können. In den 1930er Jahren kam dann die Mutationszüchtung (Mutagenese) auf, bei denen man Pflanzensamen Röntgen- oder Neutronenstrahlen aussetzt und so Mutationen provoziert - mehr und „extremere“ als unter natürlichen Bedingungen. Anschließend wird untersucht, ob dabei zufällig auch neue, für die Züchtung interessante Eigenschaften entstanden sind.

In den 1960er Jahren gründeten die Welternährungsorganisation (FAO) und die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) eine gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die bis heute Mutationszüchtung an Nutzpflanzen betreibt. Weltweit sind bald 3400 neue Sorten auf diese Weise gezüchtet worden. Dazu zählen beispielsweise ein Großteil der Hartweizensorten, die für die Herstellung von Pasta verwendet werden, aber auch viele andere Getreidesorten, Reis, Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte. So sind etwa die Ausgangslinien der heute sehr beliebten rosafarbenen Grapefruit-Sorten (Star Ruby, Ruby Red) vor Jahrzehnten durch Strahlenbeschuss entstanden.

Mutationszüchtung ist immer ein ungerichtetes „Schrotschussexperiment“: Wenn Pflanzen ionisierender Strahlung oder erbgutverändernden Chemikalien ausgesetzt werden, sollen diffuse, möglichst zahlreiche Mutationen ausgelöst werden. Wie viele es sind, wo es im Genom geschieht und welche Gene davon betroffen sind, ist zufällig und im einzelnen nicht bekannt. Die Züchter hoffen, dass unter den unzähligen Mutationen auch solche sind, bei denen neue oder verbesserte Eigenschaften entstanden sind. Und genau diese Pflanzenindividuen müssen sie finden, meist in aufwändigen Untersuchungsreihen (Screening).

Doch die Ziel-Mutation wird immer auch mit „Nebenwirkungen“ erkauft - zufällige Mutationen irgendwo im Erbgut. Solche Zufallsmutationen können Genregionen betreffen, in denen vorhandene, auch weiterhin erwünschte Eigenschaften der jeweiligen Kulturpflanze codiert sind. Diese Eigenschaften gehen dann verloren. Um das zu verhindern, müssen solche Eigenschaften wieder „rückgekreuzt“ werden, was oft langjährige Züchtungsprogramme erfordert. Die meisten zufälligen Mutationen bleiben jedoch unerkannt, da sie sich nicht in äußeren Veränderungen (Phänotyp) niederschlagen. In einzelnen Fällen sind als Folge solcher Mutationen ungewollt Nahrungspflanzen entstanden, in denen schädliche Stoffe gebildet wurden, beispielsweise bei Kartoffeln. Mit heutigen molekularbiologschen Verfahren (Sequenzanalyse) ist es inzwischen möglich, die ausgelösten Mutationen bereits auf DNA-Ebene (Genotyp)zu untersuchen. Die aufwändige Aufzucht aller bestrahlter Samen zu Pflanzen kann dann zum Teil entfallen.

Auch wenn in großer Zahl zufällige, im einzelnen unbekannte Veränderungen im Erbgut ausgelöst werden, wird diese „klassische“ Mutationszüchtung allgemein als konventionelle Züchtung angesehen, für die in der Praxis keine besonderen Regelungen einzuhalten sind.

Mutagenese-Pflanzen: Eigentlich Gentechnik, in der Praxis aber „gentechnik-frei“

Mutationen sind überall. Bei jeder neuen Generation einer Pflanze kommt es grob geschätzt zu einer Mutation auf jeweils 150 Millionen DNA-„Buchstaben“ ihres Erbguts (150.000 Kilobasenpaare, kbp). Bezogen auf die jeweilige Genomgröße von Kulturpflanzen sind das bei Kartoffeln 6, bei Weizen mit seinem sehr großen Genom 120 zufällige, im einzelnen nicht bekannte Mutationen. Bei der klassischen Züchtung fallen sie nur dann auf, wenn sie zu veränderten Merkmalen (Phänotyp) führen. - Bei der Mutationszüchtung wird die natürliche Mutationsrate etwa um das 1000-fache erhöht.

Lange har sich niemand daran gestört: Pflanzen aus Mutationszüchtung werden genau so behandelt wie solche aus herkömmlicher Züchtung. Bis auf das Sortenrecht gibt es keine besonderen Vorschriften. Auch in der Bio-Landwirtschaft sind aus Mutagenese hervorgegangene Pflanzen ohne Einschränkungen erlaubt.

Im Juli 2018 entschied jedoch der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass auch Pflanzen, die mit Hilfe mutationsauslösender Strahlung oder Chemikalien gezüchtet wurden, als „genetisch veränderter Organismus“ (GVO) anzusehen sind. Denn, so das EUGH-Urteil, bei solchen Pflanzen wurde „eine auf natürliche Weise nicht mögliche Veränderung am genetischen Material eines Organismus vorgenommen“. Deswegen fallen sie unter das Gentechnik-Gesetz, sind jedoch zugleich von allen Einschränkungen befreit, die für gentechnisch veränderten Pflanzen (und Tiere) gelten: Keine besonderen Auflagen beim Anbau, keine Zulassungs- und Kennzeichnungspflichten, keine Sicherheitsbewertung vor der Markteinführung. Sogar in Produkten mit „ohne Gentechnik“-Siegel dürfen Mutagenese-Pflanzen verwendet werden, obwohl sie rechtlich „Gentechnik“ sind.

Die EuGH-Richter begründen das mit der langen Erfahrung, die man mit der Mutationszüchtung habe. Es sei daher gerechtfertigt, daraus hervorgegangene Pflanzen ohne weitere Prüfung als „sicher“ anzusehen. Eine Kennzeichnung, die Wahlfreiheit ermöglicht, sei nicht erforderlich. In einem zweiten Urteil im Februar 2023 bestätigten die EUGH-Richter diese Auffassung.

Bei den neuen Züchtungsverfahren wie etwa der Gen-Schere CRISPR/Cas-Verfahren fehle diese „lange Erfahrung eines sicheren Umgangs“. Deswegen müssten so erzeugte Pflanzen nach dem EuGH-Urteil genau so reguliert werden wie ein GVO. Eine genom-editierte Pflanze müsse daher den gleichen Zulassungs- und Kennzeichnungsvorschriften unterliegen wie eine gentechnisch veränderte.

Lange Erfahrung bei der bereits lange bekannten Mutationszüchtung, noch wenig Erfahrung bei den neuartigen Genome Editing-Verfahren - aus diesen Unterschied leiten sich die EUGH-Urteile ab. Dass es in Bezug auf Zufälligkeit und Berechenbarkeit - und damit auch Sicherheit - genau anders herum aussieht, haben die EUGH-Richter nicht in Betracht gezogen.

Beide Verfahren - Mutagenese wie Genome Editing - beruhen auf Mutationen, punktuellen Veränderungen im Erbgut. Bei der Mutagenese werden sie zufällig und wahllos herbeigeführt, in technisch vervielfachter Zahl, während die allermeisten Genome Editing-Verfahren eine einzelne präzise Mutation an einem genau bekannten Ort im Genom auslösen. Einmal werden Hunderte im einzelnen unbekannte Mutationen in Kauf genommen, ohne mögliche Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit zu überprüfen, das andere Mal reicht eine einzelne, allerdings mit einem neuen Verfahren initiierte Mutation aus, um so erzeugte Pflanzen grundsätzlich unter einen Sicherheitsvorbehalt zu stellen.

Diskussion / Kommentare

Kommentare werden geladen…