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Reform der Gentechnik-Vorschriften: Die Wissenschaft drängt, die Politik zaudert

(29.10./18.11.2019) Eigentlich müsste sie auf der Tagesordnung der neuen EU-Kommission weit oben stehen: Die Reform der Gentechnik-Vorschriften. Wissenschaftlich schon seit Jahren überholt, blockieren sie neue, bessere Verfahren wie Genome Editing – nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Pflanzenzüchtung. Außerhalb Europas haben bereits fast alle großen Agrarländer ihre Vorschriften angepasst. Doch Europa lässt sich Zeit: Bis zum April 2021 soll nun die EU-Kommission den rechtlichen Status der neuen Züchtungsverfahren untersuchen und - wenn nötig - Änderungsvorschläge ausarbeiten. So hat es der Rat der EU-Agrarminister beschlossen.

Das Urteil hat alle kalt erwischt: Am 25. Juli 2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Pflanzen und Tiere, bei denen einzelne DNA-Bausteine mit neuen Verfahren wie Genome Editing oder der Genschere CRISPR/Cas „umgeschrieben“ wurden, unter das Gentechnik-Gesetz fallen – und damit bei Zulassung, Kennzeichnung und Sicherheitsbewertung den gleichen Regeln unterliegen wie GVO (gentechnisch veränderte Organismen).

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Eine Europäische Bürgerinitiative für eine Reform der Gentechnik-Vorschriften. Eine Gruppe junger Masterstudenten aus acht Ländern, alle an der Agrar-Universität Wageningen (NL), hat sie gestartet. Finden sich innerhalb eines Jahres eine Million Unterstützer und erreicht die Anzahl in sieben Ländern eine bestimmte Mindestanzahl, muss sich die Kommission mit dem Anliegen beschäftigen.

„Die derzeitige Gesetzeslage führt zu einem impliziten Verbot neuer Pflanzenzüchtungs-Methoden in der EU. Diese neuen Techniken sind aber wertvolle Werkzeuge für die Züchtung widerstandsfähigerer Nutzpflanzen mit weniger Ressourcen und in kürzerer Zeit. Die neuen Methoden ermöglichen somit eine dringend notwendige Weiterentwicklung in Zeiten des Klimawandels und der zu erwartenden Nahrungsunsicherheit.“

Großes Foto oben: Rat der Agrarminister 08.11.2019, (c)European Union

Allerdings entschieden die Richter in Luxemburg nicht über eine wissenschaftliche Frage. Als Juristen interpretierten sie lediglich die aktuell geltende EU-Gentechnik-Verordnung. Beschlossen wurde diese 2001, doch die entscheidenden Passagen – die Definition, was denn unter „Gentechnik“ zu verstehen sei – stammen noch aus den 1990er Jahren. Damals wären Techniken wie Genome Editing – das kontrollierte Herbeiführen punktueller Mutationen – als utopisch abgetan worden. Basis der damaligen Gesetze war ein striktes Entweder-Oder - GVO oder natürliche Züchtung. Dieses grobe Raster, das den damaligen Wissensstand widerspiegelt, bestimmt die rechtliche Systematik bis heute. Etwas Neues „dazwischen“ wie Genome Editing fällt da hindurch.

Gentechnik-kritische Organisationen, Bio-Verbände, auch einzelne Hersteller und Teile des Lebensmittelhandels begrüßten das Urteil. Es tastet ihren Markenkern – den Verzicht auf Gentechnik – nicht an. Sie sehen darin eine Stärkung des Vorsorgeprinzips und die Sicherung der Wahlfreiheit. Eine Differenzierung zwischen Genome Editing und Gentechnik lehnen sie vehement ab. „Alle diese Verfahren greifen direkt ins Genom ein“, so ein Positionspapier aus der Öko-Branche. Daraus wird ein grundsätzliches Risiko abgeleitet. Dass letztlich jede Züchtung das Genom einer Pflanze verändert, spielt dabei keine Rolle.

Es passt diesen Akteuren ins Konzept, wenn die Entscheidung der EuGH-Richter neue und alte Verfahren pauschal in den gleichen Gentechnik-Topf wirft – über alle wissenschaftlichen Unterschiede hinweg. Wer Gentechnik fundamental ablehnt, verteidigt den Status quo und will alles so lassen wie es ist. Alle anderen – vor allem Wissenschaftler, Züchter, Landwirte – drängen darauf, die Gentechnik-Gesetze der EU endlich zu reformieren. Noch immer gibt es keine ernsthafte Initiative, einen entsprechenden Prozess in Gang zu setzen.

Doch je länger man zögert, um so mehr nimmt der Problemdruck zu. „Das EuGH-Urteil ist nicht umsetzbar“, mahnt aktuell ein offener Brief von 23 Verbänden der Agrarwirtschaft und Ernährungsindustrie. Gemeint ist eine Besonderheit der neuen Verfahren: Anders als bei der Gentechnik sind damit erzeugte Pflanzen nicht identifizierbar. Analytisch ist es nicht zu unterscheiden, ob eine Mutation durch Genome Editing ausgelöst wurde oder zufällig und ohne technischen Eingriff entstanden ist. Die Folge: Die im Gentechnikrecht verbriefte Kennzeichnung und damit auch die Wahlfreiheit sind für editierte Produkte nicht zu gewährleisten.

Auch bei Agrarimporten ist es nicht möglich, Beimischungen von genom-editierten Pflanzen zu erkennen und vom europäischen Markt fernzuhalten. Inzwischen haben sich nahezu alle großen Agrarländer in Nord- und Südamerika, Australien und bald wohl auch China entschieden, „transgen-freie“ Pflanzen ohne neu eingeführtes DNA-Material zu deregulieren: Bei Anbau und Vermarktung gelten keine besonderen Vorschriften. Eine Trennung der Ernteprodukte nach den eingesetzten Züchtungstechniken ist nirgendwo vorgeschrieben.

Vor allem für Wissenschaftler ist das EuGH-Urteil schwer verständlich: Pflanzen mit einer gezielten Punktmutation an einem vorgegeben Ort im Genom gelten juristisch als GVO, solche mit einer Vielzahl von zufälligen Mutationen, die man im einzelnen gar nicht kennt und nicht überprüfen kann, bleiben dagegen völlig ungeregelt. Diese offensichtlichen Widersprüche berühren den Kern des wissenschaftlichen Selbstverständnisses.

Wohl auch deshalb war die Wissenschaft selten so einig und deutlich: „Die GVO-Gesetzgebung der EU ist veraltet und entspricht nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen“, so etwa ein offener Brief, den 118 Forschungseinrichtungen aus ganz Europa im Sommer 2019 verfasst haben. Expertenkommissionen, Akademien, Fachverbände, wissenschaftliche Gesellschaften: Es gibt wohl keine Institution von Rang, die nicht eine Reform der Gentechnik-Gesetze angemahnt hat. Und den politisch Verantwortlichen deutlich gemacht hat, um was es dabei geht.

Einige der wissenschaftlichen Positionspapiere enthalten bereits Vorschläge für eine konkrete Überarbeitung der Gentechnik-Gesetze. Im Kern zielen alle auf eine angemessene Präzisierung dessen, was künftig als GVO zu verstehen ist.

  • Ist in einer genom-editierten Pflanze keine Fremd-DNA vorhanden und hätte sie so auch unter natürlichen Bedingungen entstehen können, soll sie nicht mehr als GVO gelten, sondern wie eine klassisch gezüchtete Pflanze bewertet werden.
  • Keine einzige seriöse Stellungnahme oder Publikation aus der Wissenschaft hält es für angemessen, einfache genom-editierte Pflanzen weiterhin den GVO gleichzusetzen.
  • Einige schlagen vor, dass Unternehmen, die genom-editierte Pflanzen auf den Markt bringen wollen, gegenüber einer Behörde darlegen, ob die Voraussetzungen zutreffen. Etwas ähnliches wird bereits in den USA praktiziert (Am I regulated-Prozess). Möglich ist auch, neue, mit Hilfe von Genome Editing entwickelte Sorten in eine öffentlich zugängliche Datenbank einzutragen.
  • Werden neue Gene oder größere DNA-Abschnitte mit Hilfe von Genome Editing-Techniken an einer bestimmten Stelle im Genom eingefügt, dann sollen solche Pflanzen als GVO gelten und entsprechend reguliert werden. Auch da sind sich alle aus der Wissenschaft einig.

Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Bis daraus ein rechtskräftig geändertes Gesetz wird, ist es ein langer und schwieriger Weg - besonders in Europa. Einleiten kann ihn nur die EU-Kommission. Noch ist die neue von Ursula von der Leyen nicht im Amt (frühestens am ersten Dezember) und es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis sie tatsächlich handlungsfähig ist. Auch ist noch nicht entschieden, welcher der neuen Kommissare für das heikle und wenig populäre Thema zuständig sein wird.

Vor allem einige kleinere Mitgliedstaaten wollen nicht einfach abwarten, sondern einen politischen Prozess in Gang setzen. Auf ihre Initiative hat der Rat der EU-Agrarminister am 8. November 2019 beschlossen, die EU-Kommission aufzufordern, „im Lichte des Urteils des Gerichtshofs“ eine Untersuchung über den rechtlichen Status „neuartiger genomischer Verfahren“ durchzuführen und - falls angemessen - Vorschläge zur Anpassung des Gentechnik-Rechts vorzulegen. Ausdrücklich wird in den Beschluss auf „praktische Fragen“ hingewiesen, die mit dem Urteil des EuGH aufgeworfen worden sind - etwa das Problem der Nicht-Unterscheidbarkeit gezielt herbeigeführten und natürlichen Mutationen oder wie „in einer solchen Situation die Gleichbehandlung zwischen eingeführten Erzeugnissen und innerhalb der Union hergestellten Erzeugnissen sichergestellt werden kann.“

Spätestens am 30. April 2021 soll der Bericht vorliegen. Erst danach werden wohl erst die Beratungen über konkrete Änderungen der EU-Gentechnik-Gesetze beginnen. Doch besonders wenn es um Gentechnik geht, sind Prozesse in der EU kompliziert, langwierig und vor allem: politisch aufgeladen. Das Risiko ist groß, dass die erforderlichen Mehrheiten nicht zustande kommen. Besonders bei umstrittenen Entscheidungen verstecken sich die nationalen Regierungen gern hinter „Brüssel“, ohne selbst klar Position zu beziehen. So überfällig sie auch sein mag – bis zu einer Reform der EU-Gentechnik-Gesetze wird es noch einige Jahre dauern.

Auch eine Gruppe Masterstudenten der renommierten Agrar-Universität Wageningen (NL) will sich mit dem Stillstand nicht abfinden. Sie haben eine Europäische Bürgerinitiative gestartet, ein „Instrument der partizipativen Demokratie“, deren Regeln und Verfahren in einer EU-Verordnung festgelegt sind. Die Hürden sind hoch – eine Million Unterstützer innerhalb eines Jahres – und eine bessere Regulierung für neue molekularbiologische Verfahren ist sicherlich kein massentaugliches Anliegen.

Dennoch: Die Initiative der Studenten könnte es aus Fachzirkeln und wissenschaftlichen Communities in eine breitere Öffentlichkeit transportieren - und damit den Druck auf die Politik erhöhen, sich endlich ernsthaft mit der Anpassung der Gentechnik-Gesetze zu beschäftigen.

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